Kunst & Kultur
Fünf Fragen an Waltraud Lehner und Paulina Platzer zu “Nimmersatt” – XR Musiktheater in der alten Utting
Eine immersive Reise mit Schiff und Getreidekorn könnt Ihr im Rahmen der Münchner Biennale – Festival für Neues Musiktheater vom 3.-6. Juni auf der Alten Utting erleben. Karten gibt es hier. Das Festival findet vom 31.05. bis 10.06.2024 an verschiedenen Orten in München statt.
Eine Verbindung von Virtual Reality und Live Musik erwartet Euch in der Produktion Nimmersatt. Wir haben mit den beiden Regiseurinnen von Nimmersatt, Waltraud Lehner und Paulina Platzer, gesprochen.
Die Münchner Regisseurin Waltraud Lehner konzentriert sich in ihren fünfzig Inszenierungen auf Ur- und Erstaufführungen,
ist Preisträgerin des Europäischen Opernregiepreises, ausgezeichnet mit dem Preis für Chamber Opera von Music Theatre Now und mehrfach für die Inszenierung des Jahres der Opernwelt nominiert.
Seit 2013 ist sie Professorin für Szenische Leitung der Opernschule der Hoch-schule für Musik und Theater München und Künstlerische Leiterin des von ihr gegründeten Formats „Musiktheater-im-Reaktor“.
Ihr vollständiger Lebenslauf ist hier.
Paulina Platzer arbeitet als freiberufliche Regisseurin und Dramaturgin in München. Nach dem Bachelorstudium der Theaterwissenschaft an der LMU studierte sie im Master Dramaturgie an der Theaterakademie August Everding und ist Preisträgerin des Klaus- Zehelein-Preises 2021. Seit 2022 ist Paulina Platzer Vorstandsmitglied des vfdkb, seit 2023 Teil der Leitung des freien Theaters ‚dasvinzenz‘. Sie inszenierte die Musiktheateruraufführungen „Bior“ von Torbjørn Heide Arnesen, „Echo & Narziss“ von Florian Daniel und „A Mask We Wear“ von Bernhard Plechinger.
Zusammen inszenierten die beiden Regisseurinnen Mozarts „Zauberflöte“, Puccinis „Gianni Schicchi“ in Kombination mit Ligetis „Aventures“ sowie die Uraufführung „s p u r e n“ im Rahmen der Münchener Biennale Festival für neues Musiktheater.
Mit ihrem Theaterkollektiv Futur.X realisierte Paulina Platzer mithilfe der Debütförderung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München im November 2022 ihre Inszenierung „K/PPEN“ im HochX (WA: 2023). 2024 wird ihre Inszenierung „rememory“ (UA: September 2024) zu sehen sein.
Ihr künstlerisches Interesse liegt in der Umschreibung ständig reproduzierter stereotyper Narrative, in der interdisziplinären Zusammenarbeit und in der Dekonstruktion der elitären Zugangsbarriere zu Theater und Oper. Auf der politischen Ebene kämpft sie im vfdkb und in Arbeitsgruppen des Netzwerk Freie Szene Muc für den Erhalt und Ausbau freier (Kultur-)Räume, gegen Diskriminierung und für eine neue Förderstruktur.
Foto Waltraud Lehner: © Jakob Schad
Foto Paulina Platzer © Christian Hartmann
Und nun zum aktuellen Projekt “nimmersatt” – hier sind fünf Fragen und Antworten:
1. Wie ist dieses Projekt entstanden als Kooperation zwischen der Musikhochschule und der Biennale?
Es handelt sich um die vierte Zusammenarbeit zwischen der HMTM und der Biennale. Diese begann mit dem von Waltraud Lehner begründeten Musiktheater-im-Reaktor erstmals 2014 mit der dt. Erstaufführung von Claude Viviers „Kopernikus“; 2018 folgten sechs UA – Miniaturen „liminal space“ und 2022 die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Kellerräume des Gebäudes der HMTM mit der UA von Polina Korobkovas „spuren“ 2022.
Das Motto der Biennale “On the way” ist unser Ausgangspunkt für die UA von „nimmersatt“, die sich mit Nahrungskreisläufen befasst und der Frage nach der Rolle von Nahrung als Lebensgrundlage und als börsennotiertes Handelsgut bis hin zur Nutzung als politische Waffe nachgeht.
2. Warum habt Ihr die Alte Utting gewählt und wie steht der virtuelle Raum im Zusammenhang mit ihr?
Die Alte Utting steht als ehemaliger Ausflugsdampfer metaphorisch für die gemeinsame Reise, zu der wir das Publikum mit unserer Uraufführung einladen:
– Die geografische Nähe zum Schlachthof und zur Großmarkthalle und der Frage nach Nutztierhaltung;
– die Alte Utting steht auf stillgelegten Gleisen: Frage nach der Aktualität von Transportwegen – nicht nur von Lebensmitteln;
– die Alte Utting ist ein heutiger Konsumort und Kulturort statt ein Fortbewegungsmittel;
– das Publikum sitzt im Bauch des Schiffs, auf einer Stufe mit dem Motor und wird damit im übertragenen Sinne zum Mit-Treiber des postkapitalistischen Systems,
– die Alte Utting als Spielort ist immersiver als ein klassischer Theaterraum (Gerüche, Assoziationen, Klänge des Raums);
– der Maschinenraum steht durch Raumgröße für Intimität und die unmittelbare Nähe zu den Sänger:innen und Musiker:innen;
– es ist ein gemeinschaftsstiftender Raum, der im Kontrast zur individuellen Erfahrung im virtuellen Raum steht;
– wir verabschieden uns von der klassischen Guckkastenbühne, um Zugangsbarrieren abzubauen und im besten Fall neue Publikumspotenziale zu erschließen.
3. Was erwartet die Besucher:innen in Virtual Reality? Welche Inhalte sollen transportiert werden und warum?
Die UA von „nimmersatt“ lädt das Publikum ein, auf einer skurrilen Reise die Verflechtungen von Weltpolitik, Nahrungsmittelindustrie, Klimakatastrophe und gesellschaftskritischen Perspektiven in einer Welt materiellen Überflusses zu erkunden. Um sinnlich spürbar zu machen, wie wir alle Teil des postkapitalistischen Kreislaufs sind, ist das immersive Format der „virtual reality opera“ in seiner Vielschichtigkeit und der Möglichkeit in virtuelle Welten zu entführen ein Experiment wert.
4. Wie ist die Zusammenarbeit im Team und mit den Musiker:innen im Besonderen?
Es handelt sich eine äußerste enge, zeitintensive und langfristige Zusammenarbeit zwischen den Komponierenden, dem Regieteam, den Video-Künstler:innen und den Videofilmer:innen. Wir definieren gemeinsam, was wir erzählen wollen, auf welcher künstlerischen Ebene und mit welchen Mitteln.
5. Wie ist die Verbindung für Euch zwischen dem Digitalen Raum und der Musik?
Die Musik ist eine gleichwertige künstlerische handlungstragende Einheit und weit entfernt von reiner Untermalung der Bildwelten. Sie findet im Gegensatz zum vorproduzierten digitalen Raum real und live statt: vier Sänger:innen und vier Musiker:innen bewegen sich frei im Maschinenraum.
Zitate aus dem Libretto:
„3,2,1 rocket chick“
„Houston we have a problem“
„Schieß mich zum Mond, ins All“
„3,2,1 nimmersatt“
„Put put put put“
„Nom nom nom nom“
Die Komposition changiert immer wieder zwischen künstlich (Samples) & organisch. Ortsspezifische Geräusche (z.B. Maschinengeräusche) denken den Raum weiter und führen uns immer wieder dorthin zurück.