Wirtschaft
zum XR & METAVERSE Standards Register
Wir haben heute mit Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Kfm. Christoph Runde zum Thema Standardisierung gesprochen. Er leitet seit 2007 als Geschäftsführer das Virtual Dimension Center (VDC) in Fellbach.
Das VDC ist ein Netzwerk für Virtuelles Engineering, das Unternehmen aus dem Hard- und Softwarebereich, Technologiedienstleister, Anwender, Hochschulen und Forschungsinstitutionen vereint.
Christoph Runde studierte zunächst Elektrotechnik und Betriebswirtschaftslehre. Nach einer Tätigkeit im Porsche-Entwicklungszentrum in Weissach wechselte er 1999 an das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Bis 2006 leitete er dort die Arbeitsgruppe „Virtuelle und Erweiterte Realität“, das institutseigene Virtual-Reality(VR)-Forschungslabor sowie mehr als 20 Forschungs- und Entwicklungsprojekte.
Seit 2003 ist er Lehrbeauftragter an der Hochschule Heilbronn. 2007 promovierte Christoph Runde an der Universität Stuttgart zum Thema VR. 2017 wurde Christoph Runde durch die Hochschule Heilbronn mit einer Honorarprofessur ausgezeichnet.
Seit diesem Jahr ist Christoph Runde auch Obmann des DIN-Normungsgremiums NA 043-01-24 AA “Metaverse und Extended Reality”. Zudem hat er gerade das weltweit größte Verzeichnis zu Normen, Standards, Richtlinien und Empfehlungen zu eXtended Reality und Metaverse erstellt und veröffentlicht. Das Verzeichnis ist hier abrufbar: https://www.vdc-fellbach.de/xr-wissen/xr-metaverse-standards-register
Das Verzeichnis bietet Unternehmen und Entwicklern einen strukturierten Überblick, um Interoperabilität zu fördern und Innovationsprozesse zu beschleunigen. Das Register umfasst über 830 Einträge zu technischen, ergonomischen, sicherheitsrelevanten und ethischen Standards. Ziel ist es, Transparenz zu schaffen und die Entwicklung zukunftssicherer Technologien zu unterstützen.
Wir haben mit Christoph über diese immense Leistung gesprochen. Los geht’s:
1 Christoph, was war Deine Motivation, dieses tolle umfassende Register zu erstellen?
Unsere moderne Wirtschaft wäre ohne Normung völlig undenkbar. Normung birgt riesiges ökonomisches Potenzial und Deutschlands ökonomische Stärke fußt ebenfalls neben vielen anderen Faktoren auf der Normung. Hier waren wir immer stark, sind es immer noch. Wer die Normen definiert, definiert die Märkte von morgen. Das gilt sicher auch für den XR-Markt. Es ist sinnvoll, diese Zukunftsmärkte mitzubestimmen. Aber selbst wenn man sich nicht aktiv in die Normung einbringen will, ist es natürlich gut, Normen schlicht zu kennen und einzusetzen. Man sollte das Rad nicht neu erfinden, sondern Bewährtes nutzen und seine wertvollen Ressourcen für die wirklich innovativen Aspekte seiner Entwicklungen einsetzen. Normen definieren hier ganz einfach den Stand der Technik. Das Problem, das ich hier sah, war, dass das Thema XR-Normung ziemlich sperrig war und das Wissen dazu völlig zersplittert. Niemand konnte ohne größere Recherche sagen, welche XR-Normen ein bestimmtes Thema tangieren oder welche Normungsarbeitsgruppen ein definiertes Sachgebiet bearbeiten. Das liegt unter anderem daran, dass es alleine im XR-Kontext dutzende Normungsorganisationen (sog. „standard development organisations“ – SDOs) gibt, die – teil konkurrierend! – Normen und Standards definieren. Der prospektive Nutzer kann das nicht mehr durchschauen.
Unser Anspruch war es, ein Register zu schaffen, das genau diese Übersicht bietet: welche XR- und Metaverse-Normen und -Standards gibt es, welche Arbeitsgruppen und welche SDOs?
2. Welchen Nutzen haben Unternehmen und Entwickler:innen davon? Kannst Du Tipps geben, wie man mit dem Register am besten umgehen sollte?
Das Register ist frei nutzbar. Jeder Nutzer kann im dort nach Normen, Standards, Spezifikationen, Richtlinien und Empfehlungen zu verschiedenen XR-Themen suchen. Dadurch hat man sicherlich schon einmal einen sehr guten Startpunkt, fast ohne Arbeitsaufwand. Es wird mit dem Register also extrem einfach, XR-Normen und -Standards zu finden. Man kann das Register aktuell auf verschiedene Arten nutzen: es ist möglich, nach Einträgen bestimmter Organisationen zu suchen. Man kann auch nach Schlagwörtern (wir haben 30 tags definiert: Anwendungen, gewisse Technologien, Management, etc.) suchen. Interessant ist es auch, nach dem Status zu filtern: wählt man hier „work in progress“, so werden Entwürfe/Drafts und Projekte angezeigt. Damit sieht man also, woran gerade gearbeitet wird und was uns morgen erwartet. Selbstverständlich ist auch eine Freitextsuche möglich. In jedem Fall erhält man eine Liste und kann dann auf einzelne Suchergebnisse klicken und sich die Zusammenfassung durchlesen. Ein Link verweist dann auf die Bezugsquelle des Dokuments. Diese Dokumente sind natürlich urheberrechtlich geschützt und bei uns nicht abrufbar. Schließlich lassen sich im Register nicht nur Normen, Standards und Empfehlungen finden, sondern auch Normenarbeitsgruppen und SDOs. Wer Lust hat, irgendwo mitzuwirken oder wer wissen will, welche Gruppe an bestimmten Themen arbeitet, wir hier auch sofort fündig.
3. Welchen Vorteil bieten Standards und Normen?
Normung und Standardisierung verfolgen wichtige Zwecke wie Kostenersparnis (bei Herstellungskosten, Informationskosten, Transaktionskosten, Versandkosten, Vertriebskosten, Wechselkosten), Arbeitsvereinfachung und Erlangung von Aspekten der Rechtssicherheit. Durch die Verwendung von Standards können sich Hersteller auf die wirklich innovativen Aspekte ihrer Produkte konzentrieren. Auch die aktive Mitwirkung in der Normung von Virtual Reality und Augmented Reality kann Unternehmen signifikante Vorteile bringen: sie bringen auf diese Weise einerseits ihre eigenen Interessen ein, andererseits können sie den Markt und mögliche Wettbewerber beobachten. Aktive Beteiligung von der Normung ermöglicht einen Wissensvorsprung und unterstützt Marktöffnungsstrategien. Durch die aktive Mitgestaltung der Zukunft über Normen haben Unternehmen direkten Einfluss auf die spätere Anwendung. Sie erhalten tiefere Einblicke in Hintergründe und Zusammenhänge sowie Logiken in Bezug auf das Normungsthema. Sie profitieren vor allem davon, dass sämtliche Normungsaktivitäten im Themenfeld des jeweiligen Ausschusses transparent für alle Experten kommuniziert werden: dies gibt ihnen die Möglichkeit, sich über Stellungnahmen einzubringen und über Änderungen und Vorschläge zu Normen und -entwürfen abzustimmen. Nicht zu unterschätzen sind auch die Netzwerkaspekte: Bei aktiver Mitwirkung entstehen zahlreiche fachliche Kontakte mit Kolleginnen und Kollegen maßgeblicher Organisationen. Es gibt also zahlreiche Argumente dafür, Normen, Standards und Richtlinien nicht nur passiv – also durch deren Anwendung – zu nutzen, sondern diese aktiv selbst mitzugestalten.
4. Du bist ja jetzt auch Obmann des DIN-Normungsgremiums. Kannst Du kurz erläutern, wie überhaupt Normen entstehen? Und wie kann man sich an der Normierung beteiligen?
Man unterscheidet hier zwei Herangehensweisen:
Industriestandards haben im XR-Kontext ja eine enorme Bedeutung. Diese werden in Industriekonsortien definiert, die durch ihre Mitglieder gesteuert werden. Wer dort viel zahlt, besitzt das größte Gewicht und bestimmt die Richtung. Da muss dann nicht immer die objektiv beste Lösung herauskommen, sondern kann auch explizit dazu dienen Wettbewerber auszuschließen (die Älteren erinnern noch an VHS vs. Video2000 😊 ). Aber dieser Ansatz der Industriestandards ist sehr schnell und sehr industrieorientiert.
Die offiziellen Normungsorganisationen hingegen (wie DIN, CEN, ISO) arbeiten nach demokratischen Strukturen und haben den Anspruch, alle Stakeholder mit Interesse zu berücksichtigen. Das ist viel partizipativer und ergebnissicherer, aber eben auch langsam und birgt die relevante Gefahr – gerade in unserer schnelllebigen Branche – rechts von Industriestandards überholt zu werden oder weiße Flecken auf der Normungslandkarte nicht hinreichend schnell füllen zu können.
Wir entwickeln hier in Deutschland natürlich keine deutschen Normen, was völlig sinnlos wäre und die Grundidee der Interoperabilität ad absurdum führen würde. Die deutschen Normungsorganisationen DIN und DKE spiegeln die Arbeitsgruppen der ISO und der IEC und arbeiten an den ISO-/IEC-Normen mit. Die Gruppe ISO-IEC JTC1/SC24 (steht für International Standardisation Organisation, International Electrotechnical Commission, Joint Technical Committee 1 [das ist Informationstechnik], Sub Committee 24 [kümmert sich um Computer graphics, image processing and environmental data representation]) ist neben anderen im XR-Bereich unterwegs. Aber auch SC29 MPEG befasst sich mit immersiven Medien, oder es gibt die ganzen Hardwarethemen wie Displaytechnik in der IEC.
Wer mitmachen will, kann über unser Register also die relevanten Arbeitsgruppen suchen. Da Deutschland und Europa wollen, dass wir uns stärker in der Normung engagieren, gibt es hierfür auch Förderung: die Programme WIPANO und StandICT etwa sind für uns geeignet.
5. XR und Metaverse sind ja globale Themen. Auf welcher Ebene wird hier am schnellsten gearbeitet und wer sind die wichtigsten Akteure?
Dieses ist sicher die Industrie, die einerseits große, funktionierende, interoperable Ökosysteme schaffen will, wie die Khronos Group, oder die eigene Maßstäbe setzen will wie beispielsweise Google mit Android XR.
Von der reinen Anzahl her betrachtet, hat die ISO mit Abstand die meisten XR-relevanten Normen veröffentlicht, nur sagt die Anzahl natürlich nichts über die Relevanz und Wichtigkeit. Was die wichtigsten Akteure sind, ist für jedes einzelne Themengebiet abzuwägen.
Die SDOs haben teils natürlich ihre Schwerpunkte:
Hardwarethemen findet man so am ehesten bei der IEC,
Ergonomiethemen bei der ISO,
Managementthemen beim IEEE,
Geographiethemen bei der OGS usw.
Wir schauen gerade gespannt nach China, wo der Staat einerseits das Engagement seiner Fachleute in der internationalen Normung stark befördert, wo aber auch explizit eigene Metaverse-Normungsinitiativen gestartet werden, mutmaßlich um hier eigene Ökosysteme zu schaffen mit eigenen Großunternehmen wie etwa Huawei. Auch hier können sich Dinge also schnell bewegen, wenn der Staat die Richtung vorgibt. Gleichzeitig birgt dieser Ansatz aber sicher das größte Risiko für Fehlentwicklungen.