Kunst & Kultur

Eintauchen und Horizont erweitern.


Straniere Ovunque – Strangers Everywhere (Biennale Arte, Venedig 2024)

Kuratiert von Adriano Pedrosa (Künstlerischer Direktor, MASP São Paolo) bringt die diesjährige Biennale eine unglaublich faszinierende Vielfalt künstlerischer Positionen in den zentralen Ausstellungskomplexen der Biennale (Giardini und Arsenale), sowie zahlreichen Installationen in Parks und Gallerien quer durch die Stadt zusammen. Diversität, Queerness und insbesondere postkoloniale Diskurse und das Konstrukt von Nationalität wird aus den jeweiligen Perspektiven der Künstler:innen heraus neu addressiert. Zahlreiche künstlerische Positionen sind zum ersten Mal in Venedig vertreten und nähern sich dem Themenkomplex Strangers Everywhere in einer faszinierenden medialen und konzeptionellen Bandbreite.

Übergeordnet werden Fragen der Rolle von Museen und Kunstausstellungen als Institutionen (der Macht) verhandelt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Präsentation lateinamerikanischer bzw. indigener künstlerischer Positionen sowie Textilkunst von Installation bis Mixed-Media mit Zeichnung, Malerei, aber auch einer Bandbreite medienkünstlerischer Innovationen. Je nach Pavillon bzw. Ausstellung ist es empfehlenswert, sich am besten vorab bereits zu informieren und ggf. entsprechende Führungen zu buchen (siehe educational programme).

Die Vorbereitung ist besonders zentral, nicht zuletzt da auch besonders intensive Themen zur Sprache bzw. Ausdruck kommen, als künstlerische bzw. erinnerungskulturelle Positionen zu Zwangsarbeit (z.B. im bulgarischen Pavillon) und Kolonialgeschichte (niederländischer Pavillon/Giardini).

Im vorliegenden Beitrag liegt der Schwerpunkt auf den medienkünstlerischen Positionen, beginnend bei Video-/Performancedokumentation bis zu Mixed Reality und Dome-Konzepten bzw. Mixed Reality Ausstellungs- bzw. Gestaltungskonzepte unter Einbezug von Künstlicher Intelligenz (KI).


Adriano Pedrosa schlägt im folgenden Zitat die Brücke zwischen Venedig, den zunehmenden Krisen und Fluchtbewegungen und dem diesjährigen Thema “Straniere Ovunque – Strangers Everywhere“:

“In Venice, foreigners are everywhere. Yet one may also think of the expression as a motto, a slogan, a call to action, a cry – of excitement, joy or fear: Foreigners Everywhere! More importantly, it assumes a critical signification today in Europe, around the Mediterranean and in the world, when the number of forcibly displaced people hit the highest in 2022, at 108.4 million according to the United Nations High Commissioner for Refugees, and is expected to have grown even more in 2023.”

Die Themenkomplexe Flucht und Zeitzeugnisse von Fluchterfahrungen werden immer wieder neu in dokumentarischen Virtual Reality Konzepten erprobt bzw. gestalterisch erarbeitet (Shanneik/Sobieczky, 2023). Grundlegend ist unabhängig vom Gestaltungsmedium das Sich-Einlassen bzw. Eintauchen in Narrative und künstlerische Perspektiven des vermeintlich Anderen eine zentrale Weichenstellung auf dem Weg zu immersiven Erfahrungen mit eben mehr oder weniger In-Resonanz-Gehen. Immersion ist in diesem weiteren Sinne entsprechend neben interaktiven digitalen Medien auch in vielfältien Rauminstallationen, Video-Projektionen und Rekonstruktionen auf den Spuren postkolonialer Geschichte und Zeitzeugnissen zu erleben.


Der diesjährige Beitrag von Bolivien (Plurinationaler Staat), präsentiert im russischen Pavillon (Giardini), führt eine beeindruckende Vielfalt bolivianischer bzw. indigener Positionen im Bereich Mode und Malerei, Textil- und Medienkunst zusammen.

Zwischen Performance und Videokunst ist im bolivianischen Pavillon die Arbeit Máquina Ancestral: Ureipy der Künstlerin Zahy Tentehar zu sehen. Übergeordnet wird hier das Thema Menschsein, Sinneswahrnehmung und technologische Transformation eindrucksvoll verhandelt.

Máquina Ancestral: Ureipy, Zahy Tentehar


Máquina Ancestral: Ureipy is a performance and science-fiction short film that proposes reflections on the loss of our senses and is motivated by our need to change our reality. In the video a differently-abled character called «robotic entity» travels to an unidentified space in search of its identity, which was lost in time. Evermore aware of the failures and perhaps even ruination of the human condition, the robotic entity refuses to succumb to the loss.”

River Claure ist ebenso in Repräsentanz von Bolivien auf der Biennale (Arsenale) als Künstler mit Bezug zu Mixed Reality vertreten. Headset-Virtual Reality wird hier zwischen Tradition und technologischer Innovation abgebildet.


Im Schweizer Pavillon wird im Projekt Super Superior Civilisations (Guerreiro do Divino Amor) als schillernde Persiflage Nationale Selbstinszenierung aufs Korn genommen und eine Zukunftsvision entsprechend ironisch-euphorisch präsentiert. Im künstlerischen Projekt werden Bildwelten politischer Mythologien und deren politische Nutzung erarbeitet. Im Dome-Konzept tauchen Besucher:innen in eben diese Bildwelten ein, u.a. verkörpert von Helvetia in mannigfaltigen futuristischen Ausführungen zwischen Hybris und Sci-Fi-Persiflage.

Super Superior Civilisations, Guerreiro do Divino Amor (Dome Variante)


Beeindruckend ist auch die Hologramm-Präsentation des brasilianischen Künstlers Ventura Profana und Performances (Projekt Roma Talismano) als queere Perspektive auf politische Mythologien.

Roma Talismano, Ventura Profana, Adriana Carvalho et Amanda Seraphico 


Sehenswert sind auch Ausstellungen jenseits Giardini und Arsenale, u.a. im Stadtteil Dorsoduro (Vaporetto-Stop: Zattere). Josèfa Ntjam zeigt hier die Arbeit Swell of Spæcies mit faszinierenden KI-generierten Videoarbeiten mit begehbaren Skulpturen (Accademia di Belle Arti di Venezia).  3D-Scans westafrikanischer Skulpturen verbinden sich mit Unterwasserwesen in Josèfa Ntjams Meisterwerk zwischen Sci-Fi und Afrofuturismus. Die Künstlerin ist auch mit einer kleineren Ausstellungsvariante des Swell of Spæcies nähe Giardini im Istituto di Scienze Marine (ISMAR) vertreten.

“swell of spæc(i)es is an alchemical process in perpetual agitation, the alloying of ancestral geneses with new image creation technologies” (Josèfa Ntjam)

Swell of spæc(i)es, Josefa Ntjam


Als weitere beeindruckende medienkünstlerische Arbeit ist ebenfalls im Stadtteil Dorsoduro die großformatige KI-generierte Videoinstallation Boundaries zu sehen (Santa Maria de la Visitazione). Die Installation wurde von Memo Akten in Kooperation mit Katie Peyton Hofstadter gestaltet, mit Sounddesign von Rutger Zuydervelt. Im Corpus der für die KI-generierte Videoarbeit sind u.a. Titians Werk Mariä Himmelfahrt (Santa Maria Gloriosa dei Frari) sowie auch Rosen als Symbol für jüdische Kultur in der Stadtgeschichte Venedigs.

Boundaries (Santa Maria de la Visitazione)
Memo Akten, Katie Peyton Hofstadter, Rutger Zuydervelt


“In essence, this piece is about boundaries – those imaginary, fluid barriers. The imaginary boundaries between ourselves and our environment, body and soul, the material and the immaterial. Yet, boundaries are merely constructs of our human mind. We are not separate from the universe; we are not even in it – we are integral parts of its fabric.” (Zitat von Memo Akten)

“Boundaries also subtly but thoughtfully hints to the minor arts and displaced communities that have been living at the heart of the city for centuries. Particularly, the patterns of stylised delicate flowers in this work can be seen as a reference to Jewish communities, which traded their textiles on the island of Giudecca as early as the 1350s” (Zitat aus pdf).


Im deutschen Pavillion der diesjährigen Biennale verbinden sich künstlerische Positionen, innerhalb aber auch außerhalb des Pavillons (u.a. Installationen auf der Insel La Certosa). Für den Themenschwerpunkt Medienkunst ist u.a. die Arbeit von Yael Bartana Light To The Nations besonders hervorzuheben. Yael Bartana präsentiert die Vision eines Generationen-Raumschriffs als Flucht in eine nachhaltige Zukunft – in der Installation eines physischen Raumschiffs, aber auch im virtuellen Besuch gemeinsam mit anderen Besucher:innen als Dome-Experience (Kuppelprojektion).

“In einem Akt der Erlösung transportiert das Generationenschiff Light To The Nations (Licht der Völker) Menschen zu neuen Galaxien und Planeten. Benannt nach einer Passage aus dem Buch Jesaja, der Verheißung eines Auswegs, steht es angesichts der menschengemachten ökologischen und politischen Zerstörung des Planeten Erde im Dienste der Menschheit. Die Ausmaße des Generationenschiffs ermöglichen ein kontrolliertes Bevölkerungswachstum, das das Überleben künftiger Generationen sichert. Diese Reise mit offenem Ausgang wird sich über Äonen hinziehen und gleichermaßen utopische und dystopische Elemente enthalten.”

Light To The Nations, Yael Bartana (Videoinstallation)


In der Dome Experience trete:n die Besucherinnen gemeinsam – auf einer weichen schwarzen Kissenlandschaft – virtuell die Reise ins Weltall zur Rettung der Menschheit an. Im selben Ausstellungsraum werden eingangs als kuppelförmiges Miniaturhologramm zwei Astronaut:innen eingeblendet.

Light To The Nations, Yael Bartana (Dome Variante)


Zeitgleich zur Biennale ist die Ausstellung Liminal (Pierre Huyghe, in Kooperation mit dem Leeum Museum in Seoul für den Bereich innovativer künstlerischer Mixed Reality zu erwähnen. In der Ausstellung im Palazzio Grassi (Pinault Collection, Punto della Dogana) wird u.a. das Thema der Erschaffung künstlicher Existenzen erarbeitet.

“For Pierre Huyghe, the exhibition is an unpredictable ritual, where new possibilities are generated and coexist, without hierarchy or determinism. With Liminal, he invites us to follow other realities, to become strangers to ourselves, from a perspective other than human—inhuman.”

In den Ausstellungsräumen sind eine Reihe von Sensoren installiert, u.a. auch Face-Tracking Technologien. Die via Sensoren erfassten Daten fließen unmittelbar in KI-generierte Video- und Audiogestaltung ein. Das Konzept der Sensorenintegration ist insbesondere für Ausstellungskonzeptionen innovativ, wenngleich nicht unkontrovers (Datenanalyse & detaillierte Besucher:inneninformation entsprechend).

Im ersten Ausstellungsraum stehen die Besucher:innen vor einem massiven Display mit Live-Simulation eines weiblichen Körpers mit einer schwarzen Maske in einem nahezu komplett abgedunkelten Ausstellungsraum. Das gewählte Motiv bzw. die Körperästhetik ist mit Blick auf weibliche Darstellungen in der Kunstgeschichte, aber auch Körperbilder und Selbstdarstellung im digitalen Zeitalter vielschichtig zu reflektieren.                                                        

Liminal, Pierre Huyghe


Alles in allem gilt es, die künstlerischen Positionen und Leistung des Teams der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig zu würdigen. Die Reise nach Venedig zur Kunstbiennale (2024) bzw. den aktuellen Ausstellungen darüber hinaus lohnt sich ganz sicher.

Im Titel des vorliegenden Beitrags – Eintauchen und Horizont erweitern – werden auch die beeindruckenden Unterwasserwelten impliziert, von Unterwasserperformances mit Rollstühlen der Multidisziplinären Künstlerin Jenni- Juulia Wallinheimo-Heimonen im finnischen Pavillon – bis zu den faszinierenden Unterwasserwelten des Designers und Professors für Medienkunst Julien Creuzet im französischen Pavillion[2].


How Great is Your Darkness. Jenni- Juulia Wallinheimo-Heimonen


Julien Creuzet

Attila cataracte ta source aux pieds des pitons verts finira dans le grande mer gouffre bleu nous nous noyâmes dans les larmes marées de la lune.


Attila cataract your source at the feet of the green peaks will end up in the great sea blue abyss we drowned in the tidal tears of the moon.


Link zur Pressekonferenz mit Julien Creuzet in Französisch und in Englisch.

Über den Autor

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Reginas Forschungsschwerpunkte sind Medien-/Kunstpädagogik und Sozialpädagogische Handlungskontexte. Sie beschäftigt sich mit Fragen Digitaler Transformation in Bildungskontexten und partizipativer Teilhabe der Mitgestaltung dieser. Ihre Themen sind u.a. MedienKunstPädagogik unter Einbezug von Augmented und Virtual Reality sowie Kryptotechnologie und -kunst. Mehr unter: https://www.reginabaeck.de/

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