Kunst & Kultur
Am 26. September 2024 feierte “Der Sandmann” von E.T.A. Hoffmann als VR-Inszenierung mit Menschen und Marionetten in Kooperation des Staatstheaters Augsburg und der Augsburger Puppenkiste seine Premiere im Foyer der Augsburger Puppenkiste. Wir waren dabei:
ONBOARDING: FOYER=BÜHNE
Das Premierenpublikum trifft sich im historischen Säulenfoyer des ehemaligen Heilig-Geist-Spitals, dem Spielort der Augsburger Puppenkiste.
Anders als üblich, sind wir hier auch gleich richtig am Spielort/ VR-Kinosaal. Welchen Platz man sich aussucht, hat keinen Einfluß auf die Sicht: alle sehen und hören gleich gut in ihrer persönlichen VR-Umwelt.
Wir werden „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann sehen (empfohlen ab 16 Jahren).
Augsburger:innen konnten sich den Stoff letztes Jahr im freien „Theater Theter“ ansehen. Heute erwartet Augsburg und uns eine besondere „Sandmann“- Premiere.
VR-THEATER@HOME
Das Projekt “Der Sandmann” in der Reihe der Schauspiel- und Tanzarbeiten des Staatstheaters Augsburg, die sich das Publikum per Post an Orte in Deutschland und Österreich nach Hause schicken lassen kann, erweitert ab jetzt das vr-theater@home-Angebot um dieses Stück in sehr besonderer Besetzung:
KO-PRODUKTION UND TEAM
Seit 2018 gab es die Idee einer Kooperation zwischen Staatstheater und Augsburger Puppenkiste. Um die Geschichte des schauerromantischen Kunstmärchens aus dem Jahr 1816 von E.T.A. Hoffmann zu erzählen, arbeitete das Staatstheater Augsburg erstmalig für eine VR-theater@home – Produktion mit Regisseur und Puppenbauer (Florian Moch) und Puppenspielern der Augsburger Puppenkiste (Andreas Ströbl und Stefan Schmieder) zusammen.
Entwurf der Raum-Bühne mit ihren zweidimensionalen, teils stark vergrößerten grafischen Requisiten im Rundaushang und die stark farbigen Kostüme verantwortet, wie bereits bei der digitalen Produktion „Das Flanellnachthemd“, Amelie Seeger. Die Marionetten und die Kostüme der Puppen-Zwillinge hat Florian Moch realisiert.
Produktionsleitung (Lukas Joshua Baueregger) und technische Leitung inclusive Postproduktion (Benjamin Seuffert) lagen in Händen der Sparte Digitaltheater des Staatstheaters Augsburg.
NATHANAELS/ HOFFMANNS / MOCHS WELTEN IN DER VR BRILLE
Florian Moch zur Kombination von Holzmarionetten und VR-Technik: „1953, als noch nicht viele Menschen einen Fernseher hatten, wurde das erste Mal eine Produktion der Augsburger Puppenkiste im TV gezeigt.Dass wir jetzt wieder die neuesten technischen Entwicklungen mitmachen, ist daher eigentlich nur konsequent.“
Am heutigen „VR-vor Ort“- Abend müssen Schauspieler:innen und Puppenspieler nicht selbst auf die Bühne. Das gespielte Filmmaterial ist seit Juni abgedreht.
Wir sind gespannt darauf, wie Puppen- und Menschenwelt in Virtual Reality zusammenspielen.
MAKING OF
Juni 2024. Schauspieler:innen und Puppen bewegen sich in einem 360° geschlossenen Rundhorizont, von hinten farbig beleuchtbar mit nur einem Auftrittsschlitz. Von aussen können sich Schatten von Personen abzeichnen- im abgeschlossenen Raum agieren die Spieler:innen zeichenhaft mit flachen bemalten Requisiten und wenigen Möbeln.
Mittig im Raum steht die 360°Kamera auf einem Stativ, über dieser thront ein kegelförmiges 360° Mikrofon – darauf ausgerichtet agieren die Spieler:innen. Außer Nathanaels studentischen Schreibtisch gibt es eine kleine historisch anmutende Puppenbühne mit Flügeltüre, in die die Puppe Olimpia von ihrem Konstrukteursvater Prof. Spelanzani „eingesperrt“ sein kann, bis er sie bei einem Ball der Gesellschaft präsentiert.
Nach drei Wochen Proben wird an den drei Drehtagen im Juni 2024 penibel darauf geachtet, daß alle Nichtbeteiligten schnell die Bühne verlassen, sonst müssen sie aus dem Film retuschiert werden. Direkt hinter dem Horizont sitzt das Technik- und Aufnahmeteam am Pult.
PREMIEREN-EVENT
Jetzt, im September, ist auch die technische Postproduktion abgeschlossen, die einen Großteil der Gesamt-Arbeitszeit erforderte.
Nach der Begrüßung werden die Headsets und Kopfhörer verteilt an das auf Drehstühlen sitzende Publikum.
Das VR-Erlebnis der schauerromantischen Erzählung von 1816 beginnt mit einem wohlbekannten roten (Puppen)Theatervorhang und der sich öffnenden Puppenkiste. Solche aus der Puppentheatergeschichte bekannte Elemente entdecken wir im Laufe der 30minütigen Vorstellung öfters. Die Erzählerin kommt sehr schnell zur Sache: Der Student der Physik Nathanael fühlt sich eingeholt von einer Figur, die ihn bereits in seiner Kindheit geängstigt hat.
PERSPEKTIVEN
Interessantes Mittel: die 360° Kamera nimmt meist die Perspektive stehender Menschen ein. Beim Tanz ist sie plötzlich auf Höhe der tanzenden Marionetten: die Schauspieler:innen wirken daneben baumhoch.
Üblicherweise stehen die Spieler der Puppenkiste zwei Meter über ihren geführten Puppen. Für diesen “Sandmann” wählte man die offene Spielweise: der Puppenspieler ist als Führender voll wahrnehmbar: Ströbl und Schmieder spielen jeweils eine zentrale Rolle im Stück, sind also selbst Schauspieler: Stefan Schmieder als Puppenspieler des Nathanael ist Coppelius/ Coppola ( von dem sich Nathanael manipuliert fühlt und der als Mörder seines Vaters erscheint)
und Andreas Ströbl als Spieler der Automatin Olimpia ist ein langhaariger Spelanzani als professoraler Feinmechaniker und damit Puppenvater, ästhetisch angelehnt an Riff Raff, den Butler aus der RockyHorrorPictureShow.
Dieser Physikprofessor lädt ausgewähltes Publikum zu einem Ball, an dem Olimpia der Öffentlichkeit als „Tochter“ präsentiert wird. Auch Nathanael hat eine Einladung und ist neugierig auf die junge Frau.
In der Ballszene kommt der Puppenspieler der Olimpia= deren Vater/ Konstrukteur Spelanzani mit ihr aus der kleinen Marionettenbühne heraus. Jetzt kommt die Figurendoppelung stark zum Ausdruck: Nathanael, Olimpia und Coppola erscheinen als Mensch und als 65 cm-hohe Marionette im gleichen Kostüm.
Zwei Paare tanzen: eines die beiden Menschen-Schauspieler, das andere die geführten Marionetten. Als sich am Ende des Ballabends Nathanael nicht von Olimpia trennen will: küsst er nicht die Olimpia-Schauspielerin, sondern die Puppe.
Der Vater Nathanaels ist zu Stückbeginn nur als Puppe präsent, Nathanaels Verlobte Clara dagegen nur als menschliche Schauspielerin – sie ordnet Nathanaels wachsende Ängste als innerliche Phantasien ein und hat vermutlich deshalb keine Marionette.
Praktisch und konsequent zugleich: Katja Sieder spielt beide Frauenfiguren, sowohl Clara, als auch Olimpia. Die Puppen sind eher Nathanaels Wahrnehmung der Personen zugeordnet, die er „ durch seine Brille“ als furchteinflössend oder einnehmend liebreizend sieht.
AUGEN
Für die Augen, um die es inhaltlich zentral geht, sind bei den Marionetten Glasaugen verbaut. Nathanael glaubt, daß der Sandmann die Augen herausreissen will – die Augen der feinautomatischen Olimpia empfindet er, durch das Perspektivglas gesehen, ausdrucksstark und liebreizend. Und genau diese Augen werden im Streit der beiden Konstrukteure der Olimpia herausgpflückt und die Puppe geht dadurch kaputt.
Wir nutzen VR-Brillen für dieses Theater-Erlebnis.
Nathanael nutzt ein Perspektiv/ eine Brille mit rosaroten Gläsern. Dies kaufte er von Coppola/Coppelius, dem mysteriösen Augensammler, Brillen- und Wetterglashändler.
Durch diese rosafarbene Brille, die Nathanael nicht mehr ablegt, meint er, Dinge schärfer und lebendiger zu sehen: Die kunstvoll gebaute Puppe Olimpia kommt ihm lebendig und liebreizend vor. Ungeachtet seiner Verlobten Clara muß er sich in Olimpia verlieben, ” vergucken”. Diesen Eindruck erhält er für sich weiter aufrecht, obwohl ihm seine anderen Sinne sagen: sie ist kalt, an Händen und Gesicht; sie äussert sich akustisch nur durch das Wort „ Ach!“. In diese unspezifische Äusserung interpretiert Nathanael alles mögliche, so dass Olimpia ihm nicht nur optisch attraktiv, sondern intellektuell feinsinnig und emotional ihm zugewandt erscheint .
SHOWDOWN
Nach einem Aufenthalt in der Heilanstalt scheint Nathanael stabil und besteigt mit seiner Verlobten Clara einen Aussichtsturm. Jetzt ist der Rundhorizont abgerissen, man sieht einen Prospekt mit lieblich gemalter Landschaft – und die nackte Probebühne dahinter.
Jedoch für Nathanael gibt es kein Happy End: nachdem er Coppelius/Coppola unterhalb des Turmes entdeckt und in Folge versucht, Clara hinabzustürzen, stürzt er sich selbst vom Aussichtsturm in den Tod.
Schnitt.
Wir sehen die zerschmetterte Puppe (in ihrem Blut) am Boden liegen in Vogelperspektive. Das Bild sehen wir im Headset-Sichtraum schräg nach vorn verkippt.
Abspann.
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DIE PERSPEKTIVE ALS ZUSCHAUER:INNEN VS.
DIE PERSPEKTIVE AUF DIE ZUSCHAUER:INNEN
Brillen, Perspektiven, Headsets, Perspektivwechsel: Die Frage stellt sich: wie nehmen wir die Mixed-Theatervorgänge in der VR-Brille wahr? Es vereinzelt uns – es setzt, zwar im Schwarm im Foyer sitzend, jede:n einzeln der Geschichte im immersiven Film aus.
Die Perspektive im Marionettentheater ist üblicherweise die in Richtung Guckkastenbühne hinter dem roten Vorhang und der sich schliessenden Schlussklappe. In der Experience erleben wir erst eine Reminiszenz, eine Öffnung des klassischen Vorhangs. Dann aber befinden wir uns mitten im Geschehen und nehmen die Linsen der Kamera ein, um die herum sich das Geschehen entwickelt. Die Durchdringung von Menschen- und Puppenwelt und von 3D-konstruierten Zusatzimpulsen umgibt die Zuschauerin.
Die Experience beginnt für die Anwesenden zeitgleich, so daß alle in etwa an der gleichen Stelle der Geschichte sich befinden. Sicher ein drolliges Bild von aussen: wenn alle Zuschauer:innen mit dem Blick der Figur folgen, die sich nach rechts oder links bewegt.
Die VR Brille schafft es also am heutigen Release-Tag, daß wir Zuschauer:innen uns auf den Drehstühlen bewegen wie geführte Marionetten, wenn sich die Protagonisten im Zirkel des Rundhorizontes nach rechts oder links bewegen. Dieses Bild des Publikums entsteht nur bei VR vor Ort und nur für Aussenstehende, in diesem Falle die Mitglieder des Produktionsteams, die kein Headset nutzten.
Die Leute, die sich die Pico-Brille nach Hause bestellen, sind mit den Ängsten Nathanaels allein konfrontiert. Und bestimmt beim Abspann und Absetzen des Headsets genauso froh wie die Gruppe des Premierenpublikums, daß der Sandmann nur für Nathanael Realität war.- oder?
SELBER ERLEBEN
Für das eigene Erleben: hier Brille bestellen. 🙂